Liebe Schwestern und Brüder,
Es ist offensichtlich eine Binsenwahrheit zu sagen: Wer leben in einer gefährdeten Welt. Allein die Nachrichten der letzten Tage führen uns schlagartig vor Augen wie friedlos unsere Erde ist: Ich erinnere nur an den Überfall der Taliban vor einer Woche auf die (von der Armee geführte) Schule in Peshawar, Pakistan. 132 Kinder und Jugendliche und neun Erwachsene wurden dabei getötet. Erwähnt sei auch die blutig beendete Geiselnahme in einem Café von Sydney. Schreckliche Verbrechen von Boko Haram in Nigeria, Al Quaida und der terroristischen Gruppe IS in Afghanistan Pakistan und anderen Ländern, sowie weitere Nachrichten über Versklavung von Kindern und Frauen weltweit schrecken uns auf.
Sie, liebe Schwestern und Brüder, sind heute Nacht wohl nicht in den Dom gekommen, um über das Elend in dieser Welt klagen zu wollen. Aber weshalb sind Sie da? Geben wir uns nicht einer Illusion hin, wenn wir nachher singen: „Stille Nacht, heilige Nacht...“? Flüchten wir an Weihnachten in ein Familienidyll, das langsam aber stetig durch die Entwicklungen überrollt wird?
Was feiern wir in dieser Nacht, heute, an Weihnachten? Die Geburt des Kindes von Betlehem. Werden nicht an jedem Tag und in jeder Nacht tausende Kinder geboren? Warum also sprechen wir von einer Heiligen Nacht ? Weil wir nicht an die Geburt irgendeines Menschenkindes in dieser Welt erinnern, sondern weil dieses unscheinbare, hilflose Kind Gottes Sohn ist und in uns geboren werden will.
Die Menschen haben seit Jahrtausenden in einer sich immer wieder als friedlos erweisenden Welt nach einem Ende der Friedlosigkeit, der Unterdrückung, des Mordens und Sterbens gesehnt. Im Volk des Alten Bundes haben die Propheten durch die Jahrhunderte unermüdlich darauf hingewiesen, dass eines Tages der Messias, der Erlöser, geboren werden sollte.
Die eben gehörten Texte der Lesungen und des Evangeliums sprechen davon, dass die Erfüllung dieser Sehnsucht in dem Kind von Betlehem eingetreten ist. Aber warum wird dies so schwer erkannt? Sicherlich, weil zum einen die Erwartung des Kommens des Erlösers mit einem spektakulären Eintritt in diese Welt verbunden war. Wer hat denn damit schon gerechnet, dass der ewige, allmächtige Gott sich in einem kleinen wehrlosen Kind offenbart? Und dann wird er auch noch zu allem anderen in äußerst erbärmlichen Umständen am Rande der Weltgeschichte geboren. Wer kann dies fassen und glauben? Hat sich denn etwas seit seinem Kommen verändert?
Ein alter Mann aus unserem Bistum schrieb mir im Rückblick auf den Heiligen Abend 1944 - vor genau 70 Jahren - als er 19 jährig in amerikanischer Kriegsgefangenschaft auf französischem Boden war: „Auch am Heiligen Abend mussten wir arbeiten und hatten zwölf Stunden Nachtschicht. Nur das Läuten der Glocken der Kathedrale von Verdun erinnerte uns an die Heilige Nacht. Als wir gegen Ende der Arbeitsschicht die Arbeit demonstrativ einstellten, weitere Arbeit verweigerten und uns zusammenstellten, um Weihnachtslieder zu singen, waren auch die in den letzten Tagen bösartigsten amerikanischen Wachposten plötzlich wie umgewandelt. ... Wir waren erstaunt, dass sie uns nicht auseinander und zur Arbeit trieben, sondern viele von ihnen in unser kräftiges ‚Stille Nacht, heilige Nacht...’ zum Teil mit Tränen in den Augen in Englisch mit einstimmten. Auch wir waren gerührt und zum ersten Mal, zuerst noch zaghaft und vereinzelt, schüttelten wir uns gegenseitig die Hände und wünschten uns ein gesegnetes Weihnachtsfest ... Weihnachten hatte den Bann gebrochen und die Menschlichkeit hatte sich durchgesetzt.“
Liebe Schwestern und Brüder,
Gott bleibt immer der ganz Andere, Unberechenbare, Überraschende. Der unter der kommunistischen Herrschaft in der damaligen Tschechoslowakei heimlich zum Priester geweihten Professor Tomás Halik hat zum Thema „Gott - der ganz Andere“ Stellung genommen.
Er warnt uns davor, unsere Vorstellungen von Gott zu verabsolutieren, denn damit würden wir der Wirklichkeit Gottes nicht gerecht. Wörtlich fragt er: „Sind wir in der Lage, ... (uns) der Erkenntnis zu öffnen, dass Gott ganz anders ist, als wir ihn uns bisher vorgestellt hatten? Das radikal Neue an dieser Lösung des Dilemmas von Glauben und Unglauben ist die Einsicht, dass jene Andersartigkeit Gottes so ungeheuer und so radikal ist, dass es nicht darum geht, dass wir unsere alte Vorstellung von Gott durch eine neue ersetzen würden, sondern darum, dass wir den Mut finden, alte menschliche Vorstellungen von Gott abzulegen (oder zumindest ‚in Klammern zu setzen’) und schweigend und staunend vor dem Geheimnis stehen zu bleiben.“
Hiermit berühren wir das Wunder von Weihnachten. Wir bleiben staunend vor der Menschwerdung Gottes stehen, ohne sie letztlich verstehen zu können. Wir bleibend anbetend vor dem Kind in der Krippe stehen, ohne die Tiefe und Weite des sich darin offenbarenden unsichtbaren, ewigen, allmächtigen Gottes ausloten zu können. Wir bleiben fassungslos vor dem Worte Jesu an Philippus stehen: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ (Joh 14,9)
Und wir hören erstaunt die Konsequenz aus dieser Selbstoffenbarung, die Jesus dem wiederkehrenden Weltenherrscher in den Mund legt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Mt 25,40)In diesen turbulenten Tagen, in denen die Krisengebiete der Erde wachsen und aus den geplagten Ländern viele Flüchtlinge zu uns kommen und um Asyl nachsuchen, sind wir aus dem Weihnachtsgeschehen heraus geradezu verpflichtet, sie willkommen zu heißen und ihre Not zu lindern. Aus den Medien erfahren wir, wie viele Befürworter aber auch Gegner auftreten. Hass, Intoleranz, Ausländerfeindlichkeit und Brutalität haben nichts mit der Weihnachtsbotschaft zu tun. Haben wir den nötigen Mut, Christen zu sein?
Wir bezeichnen Christus als den Friedensfürsten. In der Wehrlosigkeit des Kindes von Betlehem begegnet uns der Gott der Liebe, der sich uns bis in die letzte Konsequenz hinein ausliefert. Es mag uns scheinen, als ob dieses Vorgehen zum Scheitern verurteilt sei. Es hat sich aber etwas wesentlich verändert: Gott setzt darauf, dass wir sein Liebesangebot ernst nehmen, tätig werden und Ungerechtigkeit, Hass und Sünde weglieben. Das Kind von Betlehem ist für jede und jeden einzelnen von uns geboren worden. So ist diese Heilige Nacht eine Herausforderung an uns. Nehmen wir sie an? Amen.